Kapitel 4 - gallopierender Wahnsinn

 Am Arbeitsplatz nicke ich jetzt regelmäßig ein. Am Wochenende: angenehm wenig Schlaf. Unter der Woche: unangenehm wenig Schlaf - made by Sylvi.

Ich bin ständig auf der Hut. Aber selbst abgeschlossene Türen helfen nur bedingt, wenn der Partner rabiat ist - und von Verlustängsten geplagt.

Ich weiß gar nicht, warum Sylvi überhaupt Verlustängste ausbildet. Sie hatte sich doch längst verabschiedet und sich außerehelichen Freuden hingegeben. Das scheint sie aber erfolgreich verdrängt zu haben. Jetzt sitzt sie jedenfalls tagsüber zu Hause und macht mir ein schlechtes Gewissen - mit Gesichtsausdruck und Haltung. Ich bin ein Schwein, ich weiß - aber ein frisch verliebtes.

Und dann ist da immer noch dieser unerklärliche Drang nach 

nächtlicher Kommunikation..

Ab zwei Uhr nachts wird’s kritisch. Dann hämmert sie an meine Tür und schreit mir ihren Zorn entgegen. Zu anderen, angenehmeren Tageszeiten kommt irgendwie nichts. Es muss sich um eine spezielle Form nächtlicher Wut handeln.

Eines Tages eskaliert es auch am helllichten Tag. Ich sitze gerade auf der Keramik, Tür abgeschlossen, zelebriere geschlechtsneutrales Wasserlassen - da kracht es.

Mit einem ohrenbetäubenden Knall fliegt die Badezimmertür auf. Sylvi stürmt herein und kippt mir einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Die Tür hängt in Fetzen. Ich sitze tropfnass und fassungslos auf dem Klo. Wortlos. Urinstrom unterbrochen. Realität verzogen.

Will sie mir damit etwas sagen?
Und wenn ja - was genau?
Rätselhaft bleibt das Weib.

Ab sofort geht Kacken nur noch bei offener Tür. Nicht aus Überzeugung - der Zustand der Tür lässt halt nichts anderes zu.

Ich setze einen neuen Punkt auf meine persönliche Minusliste: Intime Besuche der keramischen Abteilung nur bei geschlossener Tür. Damit liege ich mit Eva übrigens auf einer Linie. Schön, nicht?

Zuhause ist das Leben jetzt spaßbefreit. Also melde ich mich beruflich freiwillig für alles, was auch nur entfernt nach Außeneinsatz aussieht. Ich nehme sogar die unangenehmen Jobs, bei denen von Anfang an klar ist, dass wir selbst Schuld sind - und beim Kunden eigentlich auf einer Schleimspur reinrutschen müssten. Hauptsache: über Mülheim fahren und mit Übernachtung.

Unter Druck entwickle ich spontan eine Technik, mit der ich dem Kunden zeige, dass wir sein Problem ernst nehmen - und gleichzeitig vermittle, dass er im Grunde selbst schuld ist. Gelernt auf einem Bildungsurlaubs-Seminar: Kommunikation mit schwierigen Partnern. Eigentlich für Hotline-Mitarbeiter gedacht. Passt aber auch auf gestresste Anlagenverantwortliche.

Das Prinzip: Verbünde dich mit dem Kunden - gegen einen gemeinsamen Feind. Zum Beispiel: Billy Gates, oder das Leben, oder das Bestellwesen.

Meine 5-Schritte-Strategie:

Schritt 1: Ich schleppe alle greifbaren Messgeräte an, sinnvoll oder nicht, und zünde ein Multimediafeuerwerk - Techniker lieben sowas.

Schritt 2: Ich höre aktiv zu. Lasse den Kunden über sein Elend reden. Nicke. Wiederhole seine Worte. Man fühlt sich verstanden.

Schritt 3: Ich frage nach dem gewünschten Idealzustand. Nicht, was er kriegt - was er will. Große Augen. Hoffnung keimt.

Schritt 4: Ich erkläre ihm dann ruhig, dass sein Einkäufer und unser Verkäufer bei einem Besäufnis irgendetwas völlig anderes ausgehandelt haben.
Zack - wir sind Verbündete.

Schritt 5: Ich beginne nach zu projektieren, was in der Anlage fehlt.
All das, was die beiden Kaufleute in ihrem Bestreben, für wenig Geld eine eierlegende Wollmilchsau zu bestellen, mutwillig versoffen haben.

Das funktioniert erstaunlich gut.
Schade nur, dass die Methode bei meinem Hausdrachen nicht verfängt.

Ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, dass Kaufleute ihre Geschäfte bevorzugt im Restaurant oder im Bordell beginnen oder beenden? Wahrscheinlich, weil sie dort lernen, wie man mit überhöhten Erwartungen umgeht.

Über die Sinnhaftigkeit der Zwischenschaltung von Kaufleuten lässt sich jedenfalls trefflich streiten. Die meisten haben von der zu verhandelnden Materie nur sehr oberflächliche Kenntnisse. Und was der Einkäufer auf dem Papier einspart, holt sich der Verkäufer im Gegenzug durch minderwertige Bauelemente wieder rein.

Ergebnis: Ein Projekt, das keiner wirklich wollte - aber alle irgendwie verdient haben.

Setzt man dagegen zwei Techniker an einen Tisch, läuft das anders: Der eine kann recht genau sagen, was er braucht. Der andere kann erklären, was geht - und was nicht. So entstehen Lösungen. Keine Missverständnisse mit Quittung.

Eine ähnliche Meinung habe ich übrigens auch zu Betriebswirtschaftlern. Aber das ist noch mal ein anderes Thema.

Unsere Geschäftsleitung ist jedenfalls zufrieden. Kunden zufrieden. Ich: ausgelastet, unterwegs, halbwegs stabil.

Nur mein Abteilungsleiter ist unzufrieden. Wir nennen ihn liebevoll Parabol-Ohr - weil er alles mitbekommt, sogar die Pausen zwischen zwei Gedanken. Er hinterfragt inzwischen regelmäßig meine abgerechneten Kilometer. Auch mein Kollegenkreis hat mitbekommen, dass sich in meinem Leben gerade was Großes dreht - nicht zuletzt wegen der stundenlangen Ferngespräche mit Mülheim an der Ruhr.

Die Frage aller Fragen lautet:
„Wann zieht sie denn endlich nach Hamburg?“

Eine klare Antwort hab ich darauf noch nicht und Eva auch nicht. Aber alle warten gespannt wie bei der Soap im Fernsehen.

Gleich ein paar Straßen weiter wohnt ein befreundetes Ehepaar - wir nennen sie die Adams - wie der erste Mensch. Nur mit Festnetz.

Weil ich zu Hause nicht ungestört telefonieren kann - oder will - fahre ich oft nach Feierabend zu den Adams. Dort telefoniere ich mit Eva. Zwei, drei Stunden lang. Ohne Lauscher an der Tür. Ich fühle mich sicher aufgehoben und normal. Kein Eimer Wasser. Kein nächtliches Gebrüll. Keine Statistik.

Natürlich ist das kein Dauerzustand - selbst wenn ich mich an den Telefonkosten beteilige.

  

  

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