Unsere Insel der Glückseligkeit liegt in einer kleinen 1½-Zimmer-Wohnung in Mülheim an der Ruhr. Gegenüber: ein Schnellimbiss mit Pommes rot/weiß und halben Hähnchen. Links daneben ein türkisches Restaurant namens Der Bürgermeister von Mülheim.
Er hat keine Speisekarte. Stattdessen kommt ein korpulenter Mann auf dich zu, stellt sich als Bürgermeister vor und sagt ungefähr Folgendes - ohne Punkt, ohne Komma, aber mit sehr viel Herz:
„Hast du Hunger? Natürlich hast du Hunger. Seh ich doch von hier. Isst du Fleisch? Du siehst nach viel Fleisch aus. Setz dich. Ich stell dir was zusammen. Wirst du staunen, was es bei uns alles gibt. Möchtest du trinken? Natürlich hast du Durst. Ich hol gleich was. Etwas Cacık vorweg ...“
So schnell wird man vereinnahmt. Mitspracherecht? Zwecklos. Aber das macht nichts. Es gibt nur gute Sachen - und davon reichlich.
Hat man sich den Wanst vollgeschlagen, segelt der Bürgermeister noch einmal vorbei, reicht einem die Hand, spendiert zwei Raki und nennt irgendeinen ungeraden, charmanten Betrag. Man zahlt ihn gern. Es wird schon stimmen.
Hinter der Wohnung stehen ein paar mehrgeschossige Mietskasernen, mit Werbung an den kahlen Stirnwänden. Davor: ein Parkplatz mit Schrägstellplätzen - mein persönlicher Endgegner.
Ich fahre einen gebrauchten Raudi 100. Viel Platz, wenig Gefühl für Einparkwinkel. Die Stoßstangen sind verchromt, die Ecken mit kleinen Kunststoffeinsätzen verziert. Beim Rangieren touchiere ich regelmäßig die Hauswand - Plopp - und wieder verlässt so ein Eckteil seinen Platz.
Inzwischen fahre ich alle vier Ecken im Kofferraum spazieren. Wird bei Gelegenheit wieder angeklebt - ist ja nicht systemrelevant.
In Evas kleiner Küche sitzen wir am Tisch. Ich erzähle ihr von meinem Entschluss, mich von Sylvi zu trennen. Ihre Reaktion überrascht mich nicht - sie kennt meinen Hausdrachen seit Jahren. Ich spiele Sylvis Ausraster natürlich runter. Bin ja kein Jammerlappen.
Eva hört zu, schweigend, aufmerksam. Empathie pur. Ich wüsste nicht, wie man sich wohler fühlen könnte.
Und dann kommt der schwierige Teil. Ich druckse rum. Suche nach Formulierungen, die nicht zu viel verlangen, aber auch nicht alles offenlassen. Schließlich produziere ich folgende Formulierung: „Kannst du dir vorstellen, mit mir zusammenzuleben? Lass dir ruhig Zeit. Du musst nicht sofort...“
„Natürlich kann ich mir das vorstellen.“ unterbricht sie mich. Lächelt dabei. Ganz ruhig, ganz klar. Ich bin kurz sprachlos.
Dann
nutze ich die Gunst der Stunde für einen weiteren
Vorstoß:
„…auch
in Hamburg?“
Ihr Gesicht verzieht sich nicht mal. Und das, obwohl sie gerade erst nach Mülheim gezogen ist - geflüchtet nach Düsseldorf, vor ihrem Ex-Arsch und ihren Eltern. Hamburg ist für sie nicht einfach nur ein Ortswechsel. Es ist Rückkehr in alte Gefilde.
„Wenn’s mit dir ist - ja.“
Sieg auf ganzer Linie. Ich kann’s kaum glauben. Glück. Echtes Glück und ich mittendrin - völlig brummkreiselig.
„Lass uns an die Ruhr gehen, ein bisschen chillen“, schlägt Eva vor. Ich gehe verdammt nochmal überall hin, wo diese Frau hin will. Was sie mir an Vertrauensvorschuss entgegenbringt, kann ich doch sonst kaum wieder gutmachen.
Romantisch stelle ich mir die Ruhr nicht unbedingt vor - aber draußen ist es warm, und sie lächelt. „Lass uns gehen“, flöte ich und klinge dabei weich wie Toastbrot. Eva strahlt.
An der Ruhr angekommen, bin ich sprachlos. Ich hatte keine Ahnung, wie grün das Ruhrtal ist. Ein Fluss schlängelt sich durch Wiesen, Blumen, Bäume - Hummeln mit Plüschmors brumsummeln in der Luft. Es sieht aus wie am Oberlauf der Alster, nur dass es hier keine Yogamatten gibt, sondern echtes Gras.
Wir legen uns ans Ufer - Ich den Kopf in ihrem Schoß. Wir sagen nichts. Und das ist alles, was gesagt werden muss. Ich spüre: Das hier ist nicht nur neu. Das ist richtig.
Irgendwo zwischen Hunger, Glück und Hormonchaos verliere ich mein Zeitgefühl. Vielleicht sind’s die Schmetterlinge. Vielleicht ist’s nur der Kreislauf. Eva geht’s ähnlich. Sie streicht mir durch die Haare, als hätte sie das schon immer getan.
Der Abend endet, wo er anfangen sollte: beim Bürgermeister von Mülheim - danach: ein paar Streicheleinheiten und dann mehr. Sex mit Eva ist anders. Sie reagiert sofort. Schnurrt, seufzt, spürt. Keine Performance, keine Masche. Nur Nähe, die nachhallt. Was für ein Leben.
Am Montagmorgen starten wir um 3:00 Uhr. Schlaf? Kaum. Aber ich frühstücke mit Eva, als wäre es das Normalste der Welt. Um 4:00 Uhr muss ich los - 450 Kilometer Rückflug ins alte Leben. Aber dieses Frühstück fühlt sich an wie der Start in ein neues.
Auf der aufgerissenen Brötchentüte
kritzeln wir ausgelassen unseren zukünftigen Ehevertrag. Eva
hat die zündende Idee: Jeder bekommt ein T-Konto - wie in der
Buchhaltung.
Links die Plusseite: Was uns wichtig ist.
Rechts
die Minusseite: Was wir auf keinen Fall wollen.
Klingt albern. Ist es vielleicht auch. Aber es funktioniert.
Eva schreibt auf ihre Minusseite:
„Nie wieder
Steuererklärung.“
Ich
notiere: „Möglichst
keine Drama-Monate.“
Und dann sagt sie: „Ich wäre dir lieber ein Leben lang zu Willen, als noch einmal die Anlage N ausfüllen zu müssen.“
Das könnte tatsächlich die Grundlage für eine funktionierende Ehe sein: Wenn man weiß, was auf der anderen Seite des Bettes erwartet wird - und was nicht.
Und mal ehrlich: wie schwierig kann eine Steuererklärung schon sein?
Die Trennung fällt uns schwer - klar, aber wir wissen ja: wir sehen uns wieder. So bald wie möglich. Seltsam: In Liebesromanen muss nie jemand arbeiten, wenn’s gerade am schönsten ist. Soll mir das was sagen?
An der ersten Raststätte ziehe ich mir einen doppelten Kaffee rein. Dazu eine große Flasche dieser schwarzen, amerikanischen Cocainlimonade - für unterwegs, gegen den Sekundenschlaf. Meine größte Sorge bei Nachtfahrten: die Augen fallen zu, bevor ich’s merke.
Ab sechs Uhr wird es endlich hell. Die Müdigkeit verzieht sich langsam, dafür stellt sich dieses andere Gefühl ein - angenehme Benommenheit.
Ich weiß, das sind nur Hormone. Oxytocin, Dopamin, Endorphine - oder was auch immer da gerade durch mein System rauscht. Aber ehrlich: Das ist ein Zustand, von dem werde ich lange zehren.
Auch in dreißig Jahren werde ich mich noch erinnern, wie das hier war - in der Insel der Glückseligkeit. Klein, verbeult, aber voller Hoffnung.
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